Sonntag, 17. Juli 2011

Auf Dichterspuren: Das Kernerhaus in Weinsberg

Die Stadt ist durch die „Weiber von Weinsberg“ bekannt geworden, aber auch durch das „blutige Osterfest“ im Bauernkrieg 1525. Justinus Kerner mit seinen berühmten Gästen hat dem Ort sein Gepräge gegeben. Um 1200 wurde Weinsberg zur Stadt erhoben und blieb bis1440 Reichsstadt, 1525 vom „Schwäbischen Bund“ völlig zerstört, 1534 vom Herzog von Württemberg wieder aufgebaut.Von zwei Türmen sind Reste erhalten, der sogenannte „Geisterturm“ beim Kernerhaus sowie der Wartturm in der unteren Mauer. Der malerische Marktplatz steigt steil hinauf. Die Stadtkirche St. Johannes ist eine spätromanische Basilika. In den Kirchturm hatten sich im Bauernkrieg die Ritter geflüchtet, von den Bauern verfolgt. Vom Turmkranz wurde der Ritter von Weiler heruntergeschossen. Das Kernerhaus hat noch die alte Einrichtung bewahrt, ebenso interessante Erinnerungsstücke an Friederike Hauffe, die „Seherin von Prevorst“. Die Burg Weinsberg war im Mittelalter bedeutende Anlage der Neckargaustaufen, später Reichsburg, dann Welfenbesitz. Meist wird sie „Weibertreu“ genannt‒nach der verlorenen Schlacht der Welfen gegen den Staufer Konrad III.‒ 1440‒durften die Frauen das mitnehmen, was sie auf dem Rücken tragen konnten‒und sie trugen ihre Männer ins Tal.
Die Sage von der „Weibertreu“ geht zurück auf die „lateinische Chronik“ der Benediktinermönche von St. Pantaleon zu Köln.
Der Dichter und Arzt Justinus Kerner, bei dem auch Uhland häufig zu Gast war, bemühte sich stark um die Ruine und bewahrte sie vor dem völligen Verfall. Äolsharfentöne hört man aus den Mauern, und alles ist bestens restauriert! Unten in der Stadt gruppieren sich die alten Häuser um die Stadtkirche, deren merkwürdigstes wohl das Kernerhaus ist. Kerner hatte seinem Besitz einen uralten Stadtturm hinzugefügt, indem er chemisch laborierte, dichtete, Geister beschwor und sich als Exorzist betätigte. Aber auch viele der zahlreichen Gäste wurden dort untergebracht. Nikolaus Lenau hat hier seinen „Faust“ geschrieben und sich dabei keinen würdigeren Platz aussuchen können.
Eine zum Teil reizvolle Landschaft umgibt die Stadt Weinsberg. Der große Nachteil liegt in dem starken Verkehr (die Autobahn führt direkt daran vorbei) und einer doch ziemlich sichtbaren Zersiedelung.

Etwas mehr als dreihundert Jahre nach dem Blutsonntag von Weinsberg sah es in dem Städtchen Weinsberg ganz anders aus. Justinus Kerner bewirtete Staatsmänner, Dichterfreunde, fahrende Schüler und Bettler. Eines Tages fand auch sein Freund aus Tübinger Tagen, der Pfarrer und Dichter
Eduard Mörike, den Weg ins Kernerhaus.
(c) Peter Stubenvoll, Christa S. Lotz

Zwischen Abgrund und Apfelbaum

Eine furchtbare Zeit lag hinter Eduard Mörike. Er war dem Tod gerade noch von der Schippe gesprungen; grinsend hatte er Nacht für Nacht an seinem Bett gestanden. Mutter und Schwester Klara hatten sich nicht mehr zu helfen gewusst und den Arzt und Dichterfreund Justinus Kerner aus dem benachbarten Weinsberg zu Hilfe gerufen. Der war auch prompt nach Cleversulzbach gekommen und hatte den Todkranken behandelt. An einem Morgen im August 1837 war es dann endlich so weit: Der erste Besuch bei Kerners in Weinsberg stand an. Eduard ließ von seinem Vikar einspannen und die Kalesche rollte durch das liebliche Tauberland. Die Sonne stand schon hoch am Himmel. Eduard wurde es warm in seiner wollenen Jacke. Die blonden Locken, die unter dem Filzhut hervorquollen, waren feucht vom Schweiß. Eduard rückte seine Brille gerade und blinzelte in das flirrende Licht, das die grünhüglige Landschaft leuchten und die Äpfel in den Bäumen rot aufglänzen ließ. Endlich Ruhe! Eduard hörte die Lerchen hoch oben in der Luft, ein Bach mäanderte durch grüne Wiesen. Unbeweglich stand der Reiher an seinem Ufer, das von Silberweiden und Erlen gesäumt war. In der Ferne sah der Dichter die Burg Weibertreu auftauchen, an deren Fuß Kerner sich vor Jahren ein Haus gebaut hatte. Das Kernerhaus war berühmt im Lande, alles, was literarischen Rang und Namen hatte, aber auch Grafen, Wanderer und Studenten, fanden Aufnahme und wurden reich bewirtet. Der Freund Justinus eilte ihm entgegen. Sein fleischiges Gesicht mit den Hängebäckchen und den blanken Augen überstrahlte einen Anflug der Schwermut, der auf seiner massigen Gestalt zu liegen schien.
„Eduard, wie lacht mir das Herz, dich endlich hier begrüßen zu können! Ist daheim alles in Ordnung?“
„Klara und ich werden bald eine Kur in Bad Mergentheim machen. Die Mutter möchte nicht dabei sein, sie muss unser Pfarrhaus vor den Gespenstern hüten, meint sie.“
„Ach, ist der Barausch, der alte Pfaffenschlingel, wieder aufgetaucht?“
„Nicht nur der. Ständig gehen Lichter um, es kracht und knarrt. Wir können kaum noch schlafen.“
„Du bist das Medium, Eduard. In dir zeigen sich Abgründe, neben der lichten auch die Nachtseite des Lebens.“
„Mir wäre es lieber, wenn sich weniger Abgründe zeigen würden, besonders, was meine Gesundheit betrifft. Und das Schreiben von Predigten.“
„Fällt dir das immer noch so schwer?“
„Ich bin froh, wenn der Vikar sie schreibt und auch für mich auf die Kanzel steigt.“
„Meiner Meinung nach ist es das beste, was du nach deiner schweren Krankheit tun kannst: spazieren gehen, im Rosengarten sitzen und dichten.“
„Die Bauern sagen, ich sei ein faules Luder.“
„Die wissen eben nicht, was es heißt, Pfarrer und gleichzeitig Dichter zu sein.“
„Ach, Justinus, wenn du nicht gewesen wärst mit deiner Medizin, ich wäre wohl nicht mehr am Leben.“

Vom Gartentor her rief jemand Eduards Namen. Er wandte sich um. Diese kleine, unscheinbare, gedrungene Gestalt, die kräftige Nase, die blauen Augen und der graue Lockenkranz um die spiegelnde Fläche seines Hauptes ...
„Uhland!“, rief er aus. „Seit den Tübinger Tagen haben wir uns nicht mehr gesehen!“
„Mein lieber Eduard“, entgegnete der und blinzelte. Er trug keine Brille, obwohl er ohne sie nur verschwommen sehen konnte.„Sie sehed verhärmd aus.“
Uhland selbst war gebräunt und trug eine Kappe aus Rosshaar.
„Die Krankheit ist nicht spurlos an mir vorübergegangen,“ sagte Eduard etwas kleinlaut. „Ich fühle mich manchmal uralt!“
„Sie send doch erschd in den Dreißigern. Was soll i sage? Aber etzed mal auf Hochdeutsch: Das Beisammensein mit uns wird Ihnen gut tun.“
Eduard blickte zu dem viereckigen Turm hinüber, der in einer Ecke des Gartens stand.
„Was ist das für ein Turm?“, fragte er.
„Das ist der Geisterturm“, erwiderte Kerner. „Dort schreibe ich Gedichte und experimentiere. Ich habe euch doch von Friederike Hauffe, der ‚Seherin von Prevorst’, erzählt? Sie litt unter konvulsivischen Zuckungen. Mit Magnetismus und einfühlender Hypnose gelang es mir, ihr Leben um drei Jahre zu verlängern. Das Beste für sie war der Klang der Maultrommel. Wenn ich die spielte, begann sie aufzuleben und zu singen.“
Die beiden Dichter und der Lyriker- Arzt blickten unwillkürlich zum Turm hinüber.
„Manchmal dient er auch unserem Freund Nikolaus Lenau als Quartier, um seinen ‚Faust’ zu schreiben“, sagte Kerner.
Uhland stellte sich in Positur und rezitierte:
„Zu Weinsberg, der gepriesnen Stadt,
Die von dem Wein den Namen hat,
Wo Lieder klingen, schön und neu,
Und wo die Burg heißt Weibertreu;
Bei Wein und Weib und bei Gesang
Wär’ Luther dort die Zeit nicht lang,
Auch fänd er Herberg’ und Gelass
Für Teufel und für Tintenfass,
Denn alle Geister wandeln da -
Das Rickele, Kerners Frau, kam ihnen aus dem Haus entgegen, mit freundlichen blauen Augen, die Haare geknotet, ihre schmale Gestalt leicht gebeugt. Sie drückte jedem herzlich die Hand.
„Ihr lieben Männer“, sagte sie. „Wollt ihr heute auf dem Turm essen, unter dem Sonnensegel, im Schweizerhaus oder hier im Garten? Unter dem Apfelbaum?“
„Im Garten natürlich“, beeilte sich Kerner zu sagen.
Kurz darauf ließ man sich an der gedeckten Tafel nieder und begann zu speisen. Rickele hatte alles aufgefahren, was Keller und Küche zu bieten hatten. In der Hochzeitssuppe schwammen neben Maultaschen Grießklösse und goldbraune Flädle. Dazu wurden knusprige Brezeln gereicht. Und ein herrlich kühler Verrenberger Riesling. Es folgte eingemachter Kalbsbraten mit ‚pregelten Spatzen’, „Ihr Leibgericht“, sagte die Hausfrau verstohlen zu Uhland, dazu Salate, aber nicht nur grüne, Acker- und Karottensalate, sondern auch ein Kartoffelsalat, der so speckig glänzte, dass Eduard das Wasser im Munde zusammenlief. Er dachte an die Hafergrützen, Schmalzsuppen und Sauren Rädle, die in Cleversulzbach auf den Tisch kamen. Nun ja, Justinus Kerner war ein angesehener Arzt, Patienten aus dem ganzen Land konsultierten ihn. Da konnte er freilich auffahren ... Eduard langte zu und versuchte, seinen Hosenbund zu ignorieren, der bedenklich gegen seinen Bauch drückte.

Nachdem Uhland seinen ersten Hunger gestillt hatte, legte er Messer und Gabel auf den Tisch.
„Das war aber ein üppiges Mahl. Und dieser Wein ... ah ... ich kann mich rühmen, in meinem Leben nie Wasser getrunken zu haben. Es wäre schön, wenn es in Tübingen auch derart gastliche Häuser gäbe.“
Kerner wischte sich mit einer Serviette das Fett vom Kinn.
„Ihre Mutter ist doch eine weitbekannte, hervorragende Köchin ... und auch sonst lebt sich’s wohl ganz angenehm als Professor der Literatur?“
„Gut, dass Sie es ansprechen. An der Universität muss man vorsichtig sein, mit dem, was man lehrt. Die Obrigkeit wittert überall Aufstand. David Friedrich Strauß hat sein ‚Leben Jesu’ die Habilitation gekostet. Aber mir geht es gut, danke der Nachfrage.“
Eduard spürte einen Stich. Alle schafften es irgendwie, ihr Schäflein ins Trockene zu bringen. Und er musste sich sein Lebtag plagen, verlor womöglich noch die Gesundheit und den Verstand dabei! Rickele brachte einen Zwetschgenstreuselkuchen. Eduard ließ sich ein Stück auf seinen Dessertteller legen und gab einen ordentlichen Klacks Sahne darauf.
„Eduard“, sprach ihn nun Kerner an und lächelte. „Du bist so still. Was machen deine Veröffentlichungen?“
„Der ‚Maler Nolten’ verkauft sich nicht gut, aber ich habe doch letztes Jahr die Novelle ‚Der Schatz’ geschrieben und nächstes Jahr sollen meine Gedichte herauskommen – als ‚Klassische Blumenlese’.“
„Die ‚Geister vom Mummelsee’ haben mir besonders gefallen“, ließ sich Uhland vernehmen. „Apropos: Wie steht’s mit den Geistern in Cleversulzbach?“
„Die traten anfangs, im ersten Sommer, am stärksten auf. Aber die Spukgestalten lassen uns nie ganz zur Ruhe kommen!“
„Wäre es nicht denkbar“, warf Uhland ein, „dass die Leute aus dem Dorf ihren Schabernack mit euch treiben?“
„Das kann ich nicht glauben“, antwortete Eduard, „wir haben immer sofort nachgesehen, aber keine menschliche Spur entdeckt!“
Justinus Kerners erhob seine Stimme: „Ich glaube schon an derartige Erscheinungen. Es bedarf nur eines besonderen Mediums und das ist mir in Eduard gegeben.“
„War nicht Kaspar Hauser auch in einem solchen Zustand?“, wollte Uhland wissen.
„Kaspar Hauser war lange Jahre in einen dunklen Raum eingesperrt. Das ist etwas anderes. Bei Friederike Hauffe sah ich Zeichen von Hysterie, auch von Somnambulismus, dem krankhaften Schlafwandeln. Ich glaube aber, dass sie mit einer anderen, uns verborgenen Welt in Verbindung stand. Und sie war besessen!“
Eduard leerte seinen Becher mit dem köstlichen weißen Wein und schaute zum Himmel, wo der Abendstern erschien. Ein kühler Hauch kam von den Bergen herab und ihn fröstelte. Er hörte Kerner sagen:
„Die Hysterie ist eine Konversion, eine Umkehrung des normalen Zustandes. Die dunkle, die Schattenseite kommt zum Vorschein. Diese Patienten haben die Eigenschaften eines Schauspielers: sie steigern sich in ihre Einbildungen so weit hinein, dass sie ihr inneres Leben wie auf einer Bühne austragen müssen.“
Eduards Gedanken schweiften ab. Er dachte an Maria, seine frühe, seine all-einzige Liebe. In seine blauen Augen traten Tränen.
„Und nun strich sie mir, stillestehend,
seltsamen Blicks mit dem Finger die Schläfe,
jählings versank ich in tiefen Schlummer,
aber gestärkt vom Wunderschlafe
bin ich erwacht zu glückseligen Tagen,
führte die seltsame Braut in mein Haus ein.“
Laute Stimmen rissen ihn jäh aus seinen Träumereien. Am Gartentor stand eine Gruppe von Menschen. Kerner sprang auf und eilte ihnen entgegen.
„Lenau, Mayer - und der Graf von Württemberg! Kommt alle an mein Herz und lasst euch drücken!“
Eduard schluckte. Die vielen fremden Menschen machten ihm Angst. Und den Nikolaus Lenau wollte er schon gar nicht sehen, der machte viel zu viel Aufhebens von sich und seinen Gedichten. Eduard erhob sich mit den Worten:
„Freunde, ich bedaure, ich muss mich zurückziehen. Der Rheumatismus hat mich wieder im Griff. Eine schöne gute Nacht wünsche ich allen.“
Trotz allgemeinen Protestes ließ er sich von Rickele zu seiner Schlafkammer führen. Kerner folgte ihm und fragte:
„Was ist los mit dir, Eduard?“
„Ich muss meine Schneckenhörner wieder einziehen. Hier bei dir ist ein ständiger Durchzug. Es ist wunderbar, dass du alle Welt empfängst und bewirtest - aber meine Sache ist es nicht.“
„Eduard, wir werden dich öfter in Cleversulzbach besuchen. Ich werde dir auch literarische Gäste schicken.“
„Darüber würde ich mich freuen. Aber kommt, bevor es zu spät ist.“

(c) Christa Schmid-Lotz 2004 in: Eduard Mörike. Ein Leben auf der Flucht.

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